- Das Ende des Philosophen -
Der Weg zum Restaurant war nicht sehr weit. (...) Alise betrat das
Lokal, Jean-Sol Partre saß an seinem Stammplatz und schrieb, wie immer.
Das Lokal war voll und es herrschte ein gedämpftes Gemurmel. Wie durch
ein Wunder war am Tisch Jean-Sols ein Platz frei. Alise näherte sich und
setzte sich neben ihn. Sie legte sich ihre schwere Handtasche auf die
Knie und öffnete den Verschluß. Mit einem Seitenblick erkannte sie,
woran er gerade arbeitete: «Encyclopédie, Band 19». Sie legte vorsichtig
eine Hand auf den Arm Jean-Sols; er hielt im Schreiben inne:
«Soweit sind Sie schon?», fragte Alise.
«Ja, ja.», antwortete Jean-Sol. «Sie wollten mich sprechen?»
«Ich wollte Sie dringend bitten, dieses Buch nicht zu veröffentlichen.»,
sagte sie.
«Das wird schwierig. Man wartet schon auf diesen Band.», sagte Jean-Sol
Patre .
Er nahm seine Brille ab, hauchte über die Gläser und setzte sie wieder
auf; jetzt konnte man seine Augen nicht mehr sehen.
«Naja, wenn es weiter nichts ist... Wir werden sehen.»
«Es reicht schon, wenn Sie es erst in zehn Jahren veröffentlichen.»
«Ja?», sagte Jean-Sol Partre.
«Ja.», sagte Alise, «Zehn Jahre, eventuell mehr, wenn's geht. Sie
wissen, es ist besser, die Leute können etwas ansparen, bevor sie das
Buch kaufen...»
«Es wird aber total langweilig sein, das zu lesen», sagte Jean-Sol,
«wenn ich mich beim Schreiben schon so langweile. Jetzt habe ich auch
noch einen Krampf in der Hand; kann das Blatt hier kaum noch festhalten.»
«Tut mir leid für Sie.», meinte Alise.
«Daß ich einen Krampf habe?»
«Nein, daß Sie die Publikation nicht verschieben wollen.»
«Warum?»
«Ich werde es Ihnen erklären.», sagte Alise. «Mein Freund hat all sein
Geld für Ihre Bücher ausgegeben, und jetzt ist er pleite.»
«Man kann doch auch was anderes kaufen.», sagte Jean-Sol Patre, «Ich
kaufe nie eins meiner Bücher.»
«Er ist halt ein Fan Ihrer Sachen.»
«Das ist sein Recht, er hat die Wahl.»
«Aber was zu weit geht, geht zu weit.» sagte Alise, «Und was mich
betrifft, ich habe meine Wahl schon getroffen, ich bin jetzt wieder
ungebunden, denn er will nicht mehr mit mir zusammenleben. Also: Ich
werde Sie töten, wenn Sie sich weigern, Ihre Publikation zu aufzuschieben.»
«Aber Sie nehmen mir damit die Grundlagen für meine Existenz.», gab
Jean-Sol zu bedenken. «Was meinen Sie, wie ich an meine Tantiemen kommen
soll, wenn ich tot bin?»
«Das ist allein Ihr Problem. Ehe ich jetzt über alles Mögliche
nachdenke, bringe ich Sie besser gleich um.»
«Aber Sie stehen mir zur, daß ich den Grund für Ihr Vorhaben nicht
akzeptieren kann?», fragte Jean-Sol.
«Ja, wie Sie wollen.»
Alise öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr den Herzausreißer, der die
Tasche so schwer gemacht hatte.
«Würden Sie sich bitte frei machen?» fragte sie.
«Hören Sie, ich finde diese ganze Geschichte idiotisch.», sagte
Jean-Sol, und nahm seine Brille wieder ab.
Er knöpfte sein Hemd auf. Alise konzentrierte sich kurz, und rammte
Patre dann mit aller Kraft den Herzausreißer in die Brust.
Er sah sie kurz noch einmal an, und dann lief ein letztes Erstaunen über
sein Gesicht, als er sah, daß sein Herz die Form eines Tetraeders hatte.
Dann starb er.
Alise wurde ganz blaß: Jean-Sol war tot, und der Tee wurde kalt. Sie
schnappte sich das Manuskript zu «Encyclopédie, Band 19» und zerriß es.
Einer der Kellner kam das Blut aufzuwischen und die ganze Sauerei mit
der Tinte auf dem kleinen rechteckigen Tisch. Sie zahlte die Rechnung,
öffnete den Herzausreißer und ließ das Herz Jean-Sol Patres auf dem
Tisch zurück. Dann klappte sie das glänzende Instrument wieder zusammen
und ließ es zurück in die Tasche gleiten, verließ das Lokal. In der Hand
hielt sie nun eine Schachtel Streichhölzer, die sie Jean-Sol aus der
Tasche gezogen hatte.
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(Aus: "L'écume des jours" von Boris Vian, Fayard 1996, p.298-301)